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Leseprobe Zirkus der dunkelsten Stunde
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Kapitel 1
Abend



Der Albtraum hatte längst begonnen. Doch an diesem Oktoberabend war es nicht mehr als ein warnendes Flüstern seiner Intuition, die dem Oberstaatsanwalt Dr. Rupert Sternberg zu­raunte, dass sich in seine Familie etwas ein­geschlichen hatte, was nichts Gutes bringen würde.

 

Er drehte den Schlüssel im Schloss der Ein­gangstür seines Hauses, schob sie auf, trat ein und stolperte über einen blauen Spielzeug-LKW, den sein vierjähriger Sohn Leon in der Diele „geparkt“ hatte. Aber wo war sein kleiner Sohn? Keine hektischen Trippelschritte, die vom Wohn­zimmer her schnell näher kamen, keine Gesprächsfetzen zwischen Leon und Sternbergs Frau Elli, keine Kinderlieder oder Hörspiel­dialoge der „Drei Fragezeichen Kids“ aus dem Kinderzimmer. Nur Stille im dunklen Haus.

 

Sternberg legte seine Aktentasche auf den Schuhschrank, durchquerte die Diele und das düstere Esszimmer, wo er auf einem Plastik­teller mit „Findet Nemo“-Motiven zwei zer­pflückte Brühwürstchen und eine unangetastete Scheibe Toastbrot entdeckte: Reste eines Kin­der­abendessens, das nach wenigen Bissen in die Würste beendet worden war. Aus der Küche strömte Licht, die Entlüftung des Dunstabzugs summte. Elli stand mit dem Rücken zu ihm, spähte in den Kühlschrank und zuckte zu­sam­men, als sie ihren Mann bemerkte, der mit seinen etwa zwei Metern Körpergröße den Türrahmen füllte. „Alles okay?“, fragte er mit Besorgnis in der Stimme und blickte sie an. Als sie sich vor dreizehn Stunden verabschiedet hatten, war ihm ihre Haut nicht so bleich und ihre Augenringe nicht so dunkel erschienen. Außerdem wirkte ihr Gesicht, als wäre jeder Muskel darin angespannt. „Du hast mich viel­leicht erschreckt!“, stieß sie hervor. „Ich habe dich nicht so früh erwartet und dich nicht reinkommen gehört.“ Sie umarmte ihn und gab ihm einen Kuss. „Ist mit Leon alles in Ordnung?“, fragte Rupert. Elli zuckte mit den Schultern. „Er ist schon im Bett. Ich war höchstens eine halbe Stunde von der Arbeit zurück, da stand er gegen sieben Uhr plötzlich in seinem ,The Flash-Schlafanzug‘ vor mir und sagte ,Gute Nacht! Ich bin müde und will schlafen!‘“ Ruperts Augen­brauen schnellten in die Höhe. Sein Sohn Leon, dieses quirlige Energiebündel, das nicht um­sonst einen Schlafanzug mit dem überschnellen Comic-Helden „Flash“ bekommen hatte, ging freiwillig ins Bett? Und das um neunzehn Uhr? Elli nahm eine Flasche Milch aus dem Kühl­schrank und schloss ihn. Die glänzende Metall­tür hatten sie mit bunten Magneten in eine kleine Galerie mit Familienfotos und von Leon gemalten Bildern verwandelt. Ein Bild, das heute Morgen noch nicht da gehangen hatte, fiel Rupert ins Auge: In den krakeligen Wachsstift­linien erkannte er grüne Bäume, gelbe Sterne und einen Mond. Außerdem Elli mit einem drei­eckigen Oberkörper, der ein Kleid darstellte, das seine Frau so gut wie nie trug. Neben ihr zwei gleichgroße Strichmännchen, von dem das eine – ohne Haare – Rupert und das andere mit ab­ste­hen­den Strich-Haaren Leon zeigte. Alle nebeneinander Hand in Hand aufgereiht – und daneben noch eine weitere Figur.

 

Sternbergs Stirn legte sich in Falten, er schob den Kopf vor, als könnte er aus nächster Nähe besser verstehen, was Leon da gemalt hatte. Wer war das? Ein Strichmännchen, etwas grö­ßer geraten als die anderen, das Leons andere Hand hielt. Blaue Beine, ein gelber und ein grüner Arm über einem roten „Strich-Bauch“. Von einem großen, ballonförmigen Kopf stan­den wild orangefarbene Haare ab. Doch was Rupert erneut stutzen ließ, waren die Augen: Normalerweise malte Leon allen Menschen blaue Punkte als Augen, egal welche Augenfarbe sie in Wirklichkeit hatten. Bei dieser Figur war es anders: Sie starrte Sternberg mit schwarzen Kreuzen an. Der mit einem dicken, roten Wachs­malstift gemalte Mund grinste Sternberg hä­misch entgegen. Mit dem gleichen roten Stift hatte Leon auch die Nase in die Mitte des Ge­sichts gemalt. „Was es mit dem Bild auf sich hat, erkläre ich dir besser in Ruhe“, sagte Elli, die Sternbergs skeptisch-forschende Miene richtig interpretierte. Sie warf einen Blick auf die Küchenuhr, die neben dem Fenster, durch das ein märchenhafter Halbmond schien, vor sich hin tickte. „Erst halb neun“, stellte sie fest. „Wird noch eine lange Nacht. Magst du uns zwei Espressi machen? Dann erzähl‘ ich dir alles. Danach können wir essen, und dann hat jeder noch Zeit für seinen Schreibtisch.“

 

Wenige Minuten später saßen sie, zusammen unter eine Decke gekuschelt, auf der Terrasse ihres Hauses, wärmten sich die Hände an den Espressotassen und blickten auf den Mond, vor dem vom Herbstwind getriebene Wolken vorbeizogen. Rupert gähnte, sein Atem konden­sierte in der Luft und wurde als kleine Wolke sichtbar. „Eins vorweg“, begann Elli, „was es mit diesem Clown, oder was auch immer Leon da gemalt hat, auf sich hat, kann ich dir nicht sagen. Leon meinte, das sei ein Geheimnis. Aber ehrlich gesagt, ist das auch das Harmloseste an diesem verrückten Tag“, fuhr sie fort und nahm einen Schluck von dem dampfendheißen Es­presso, bevor sie weitersprach: „Ich fühle mich einfach schuldig. Ich kümmere mich den ganzen Tag als Kinder- und Jugendpsychotherapeutin um die Probleme von Kindern, Jugendlichen und deren Familien. Und heute bekomme ich einen Anruf von Leons Kita, ich hetze in der Mittagspause hinüber, und man gibt mir dort das Gefühl, dass ich nicht auf mein eigenes Kind aufpassen kann.“ Rupert runzelte die Stirn. Elli sollte nicht auf Leon aufpassen können? So wie er sie kannte, erschien ihm das völlig absurd! „Leon wollte nichts essen – weder heute Abend hier noch heute Morgen in der Kita. Er sagte, er sei satt. Das ist jetzt schon der dritte Tag hinter­einander.“ Sternberg massierte seine Schläfen. „Was würdest du Eltern raten, die mit so einem Problem bei dir in der Praxis auftauchen?“, fragte er. „Wenn das alles wäre, würde ich erstmal nicht zwingend von der Notwendigkeit therapeutischen Handelns ausgehen“, antwor­tete Elli. „Aber das war nicht alles“, folgerte Rupert. „Nein. Die Erzieherin sagte mir, dass Leon seit einigen Tagen unkonzentriert sei. Außerdem wirke er übermüdet. Heute ist er in einem der Spielhäuser eingeschlafen. Die Er­zieherin wollte wissen, ob es vielleicht irgend­welche Vorkommnisse oder familiäre Probleme gäbe.“

 

Rupert schluckte. „Ein Vater mit 70-Stunden­woche, der zur Zeit ein Verfahren gegen eine große Technologiefirma vorbereitet, und in den kommenden Wochen eher noch mehr als weni­ger arbeiten wird… Ich schätze, das fällt schon unter ‚Problem‘“, entgegnete er. „In Kombina­tion mit einer Mutter, die neben ihrer Arbeit in der eigenen Psychotherapie-Praxis gerade ein umfangreiches Gerichtsgutachten in einem Fall von Kindesmisshandlung erstellt... Und die in zwei Wochen an der Hochschule Niederrhein einen Gastvortrag über die Schäden des ,Fer­berns‘ bei Säuglingen halten wird…“

 

Elli sprach nicht weiter, doch er verstand, was sie meinte. „Wenn mein komplexer Fall durch ist, werde ich kürzer treten“, beschloss Rupert Sternberg. „In fünf oder sechs Wochen müsste ich aus dem Gröbsten raus sein. Der Fall ist gleichermaßen kompliziert wie wichtig. Es geht um eine Technologiefirma, die sich auf künstli­che Intelligenz und Sicherheits-, genauer ge­nommen auf Überwachungstechnik speziali­siert hat. Was die da entwickeln, macht so manchen Kollegen im Innenministerium schon neidisch. Die Technologie lässt sich sehr gut im Spio­nagebereich einsetzen. Und jetzt wird es pikant: Dieses Unternehmen wurde nun von einem Wirtschaftsimperium geschluckt. Und dieses Wirtschaftsimperium hält den Verfas­sungs­schutz schon seit einigen Jahren auf Trapp. Wobei Wirtschaftsimperium eigentlich noch viel zu bodenständig klingt. Hinter vorgehalte­ner Hand spricht jeder den Begriff aus, den deren Armee von Anwälten immer abwehren: Es ist eine Sekte. Eine Sekte mit großer, schnell wachsender, weltweiter wirt­schaft­licher Macht. Und das Flaggschiff des so aufgebauten Firmen­imperiums ist ein Unter­nehmen für ,militärische Dienstleistungen‘, ein ,privates Sicherheits- und Beratungsunterneh­men‘, das man auch einfach als global agierende Söldnertruppe bezeichnen könnte. Die inzwi­schen größte Armee auf die­sem Planeten gehört keinem Staat, sondern einer Firma. Und die hat nun durch einen Kauf das besagte Unternehmen für Überwachungs­tech­nik und Künstliche Intelligenz als exklu­siven Zulieferbetrieb an sich gebunden.“

 

Sternberg spürte, wie sich Elli unter der Decke noch enger zusammenkauerte, war sich aber nicht sicher, ob die kalte Herbstluft der Grund dafür war. „Was hältst du davon, wenn wir schnell in die Küche gehen, uns etwas zu essen auf die Teller packen und jeweils am Schreib­tisch essen? Mehr Arbeit in der Nacht bedeutet mehr Zeit am Tag für Leon“, schlug Elli vor. Rupert warf den Kopf in den Nacken und leerte den Rest seines Espressos. „Klingt weder gemüt­lich noch gesund, aber sinnvoll“, gab er zurück. „Wir sollten das so machen.“ Er gähnte und fuhr fort: „Aber zuerst gehe ich kurz zu Leon.“

 

Bevor sich die Augen des Oberstaatsanwalts an die Dunkelheit gewöhnt hatten, hörte er Leon leise und regelmäßig atmen. Sternberg hockte sich neben das Kinderbett und strich seinem Sohn über den verstrubelten Haarschopf. Das kleine Gesicht war halb in dem Kissen mit Dinosauriermotiven versunken. Eine Kleinkind­hand mit Grübchen unter den Fingerwurzeln hielt einen Teddybär fest, den er mit einem Arm umschlang. Alles schien in Ordnung. Als Sternberg sich nach einigen Augenblicken aufraffte und zur Tür schritt, immer auf der Hut, nicht auf Spielzeug zu treten, bemerkte er die Clownpuppe: etwa vierzig Zentimeter hoch, mit blau-grün glänzender Hose, einem roten Hemd mit puscheligen Knöpfen – rot, gelb, grün – angeordnet wie eine Ampel. Ober­halb eines großen, weißen Rüschen­kra­gens saß ein bal­lonförmiger Kopf, von dem kürbisorangene Wollhaare abstanden. Der breite Mund grinste Rupert hämisch an. Leon besaß die Puppe noch nicht lange und hatte ihr bislang wenig Aufmerksamkeit geschenkt, dachte Sternberg, wobei er sogleich seiner inneren Stimme beipflichten musste, die ihm sagte, dass er nur sehr wenige Kenntnisse davon hatte, wem oder was Leon den ganzen Tag Aufmerksamkeit widmete. Aber immerhin wäre diese hässliche Puppe eine mögliche Begründung für dieses groteske Bild, das seit heute den Kühlschrank zierte.